Lieder, die mein Leben begleiten

 

Schon vor einiger Zeit bat mich die Redaktion der Zeitschrift „Brennpunkt Gemeinde“ um einen Artikel zu der Frage, welche Lieder mein Leben begleiten. Hier meine Gedanken dazu:

Lieder sind Herzenssache. Darum muss ich persönlich werden, wenn ich darüber nachdenke, welche Lieder mein Leben begleiten. Wenn ich an die Brüche, die Umbrüche und Aufbrüche meines Lebens denke, dann höre ich Musik. Ich höre die Lieder wieder, die mich in diesen Zeiten gefunden haben.

„Der Glaube kommt aus dem Hören“ sagt der aufrechte Protestant. Und meint das Wort. Doch die Sprache des Herzens ist zuerst die Musik. Unsere Seele will singen. „Singt dem Herrn ein neues Lied!“ beginnt Psalm 98. Und nicht: „Haltet dem Herrn einen neuen Vortrag!“ Lieder bergen ein Geheimnis. Sie gehen tiefer als bloße Worte. Unser Herz denkt nicht darüber nach, ob ein Lied es berühren darf. Es geschieht einfach so. Und wird uns unvergesslich und ein verlässlicher Begleiter.

Wenn ich heute „Graceland“ von Paul Simon aus dem Jahr 1986 höre, dann stehe ich wieder, wie damals, in seinem Konzert in Essen. Hinter der Frau, in die ich verliebt war und mit der ich nun soeben Silberhochzeit gefeiert habe.

2001 komme ich nach Ruanda, Ostafrika. Sieben Jahre nach dem Völkermord bin ich mit meinem Filmteam im Landrover auf dem Weg zu einem Gefängnis. Mit uns fährt eine Frau, die dort den Mörder ihrer Mutter treffen will, einen Mann, mit dem sie als Kind noch zusammen gespielt hatte. Wie wird diese völlig unberechenbare erste Begegnung zwischen einer Opferangehörigen und dem Täter verlaufen? Ich habe Angst vor diesem Tag. Und summe gedankenverloren eine Melodie vor mich hin. Es dauert eine Weile, bis mir klar wird, was ich singe. Es sind Strophen des Kabarettisten Hanns Dieter Hüsch:  „So lasst uns denn dies Lied zu Ende singen, zusammen und allein. Von Tag zu Tag den Widerspruch vollbringen: Wir haben Angst und müssen mutig sein.“  Der Film, der dann aus der Begegnung im Gefängnis entstanden ist, hat meine Arbeit als Dokumentarfilmer einschneidend verändert. Und wird immer verbunden bleiben mit dem kleinen Lied von Hanns Dieter Hüsch, das mich getragen, getröstet und ermutigt hat.

Vor knapp sechs Jahren gehe ich mit meiner Frau und unserer Tochter im Teenageralter in ein Konzert in Aachen und fühl mich sofort fehl am Platze. Das Publikum ist überwiegend noch jünger als der Ende-20-jährige Singersongwriter auf der Bühne, von dem ich bislang kaum etwas gehört hatte. Dann singt Philipp Poisel dieses Lied:

„Du bist doch noch so jung. Das ist, was die Leute sagen. / Doch wenn ich heute gehen müsste, könnte ich mich wirklich nicht beklagen. / Was ich alles schon erleben durfte, wenn ich an all die Menschen denk, / die so viel früher ihr Leben ließen, dann ist meines ein Geschenk. / Ich hab furchtbar Angst vorm Tod. Ich hoff, wir sind dort nicht allein. / Auch wenn das Leben manchmal traurig ist, bin ich froh, – froh dabei zu sein!“

In diesem Moment stimmt der ganze Saal mit ein in den Gesang. Und mir kommen die Tränen. „Froh dabei zu sein“ hat mich vollkommen unverhofft gefunden und berührt – als Mann in den späten Vierzigern, der mittlerweile mehr verstanden hat von der Zerbrechlichkeit und Kostbarkeit des Lebens. Der dankbar zurückschaut auf die vielen Geschenke des Himmels, und zugleich spürt, dass nun wieder eine Zeit von Umbruch und Aufbruch kommt. Die ersten Herzinfarktpatienten im Freundeskreis, die mittlerweile viel zu häufigen Beerdigungen väterlicher und mütterlicher Wegbegleiter und Mentoren, die drängender werdende Frage nach dem eigenen Platz in der Arbeitswelt für die zweite und letzte Hälfte des Berufslebens… Vieles davon kennt Philipp Poisel erst vom Hörensagen, doch sein Lied hat mich berührt. Weil ich meine Geschichte, meine Dankbarkeit und Sorge in seine Strophen und seine Melodie hineingelesen habe. „Gelesen“? Nein, wohl eher hineingefühlt habe. Denn seine Verse, die Sie hier nur lesen können, habe ich als Lied gehört, zusammen mit dem Gesang eines ganzen Saales.

Drei Beispiele für Musik, die Umbrüche in meinem Leben begleitet hat. Ich weiß nicht, ob es Ihnen aufgefallen ist: ein „geistliches Lied“, ein Choral war nicht dabei. Keine Sorge! Auch dort gibt es so einige Weggefährten, die mich schon lange begleiten. Aber Paul Simon hat schon vor 50 Jahren erkannt: „The words of the prophets are written on the subway walls!“ – „Die Worte der Propheten sind an die U-Bahn-Wände gekritzelt“ So singt er in seinem berühmten Song „Sound of silence“. Prophetische Sänger, die den Zeitgeist durchschauen, einem noch unbestimmten Lebensgefühl eine Stimme geben und uns singend die „Wahrheit“ sagen, kommen nur selten aus der Kirche. Gottes Schöpfergeist weht nun einmal, wo er will und sucht sich seine prophetischen Sänger mit Vorliebe außerhalb der wohl behüteten vier Wände unserer kuscheligen Kirchengemeinden. Die segnende Kraft eines Liedes ist nicht an die politisch korrekte Weltanschauung, die etwaige christliche Überzeugung oder den moralisch einwandfreien Lebenswandel seines Sängers gebunden. Ein Lied kann wirken wie ein Sakrament, zu dem die Alte Kirche bereits weise festgehalten hat: Das Sakrament wirkt unabhängig von der Würdigkeit seines Spenders. Denn Gottes Handeln lässt sich durch unsere menschlichen Schwächen nicht aufhalten. Gottes Schöpfergeist wirkt auch durch schräge Sänger, manchmal sogar durch solche, die heute bei jeder Castingshow sofort rausfliegen würden, weil sie gar nicht singen können, sondern seit Jahrzehnten nur näselnde Laute von sich geben.

Ebenso dankbar aber bin ich Gott für den großen Schatz von Liedern, die über Jahrhunderte in seinen Kirchen entstanden sind. Was dichtet ein frommer Mann, der elf war, als der Krieg begann, der mit 12 seinen Vater und mit 14 seine Mutter verlor und der 41 Jahre alt werden musste, bis der Krieg endlich vorbei war? Er schreibt Verse wie diese: „Befiehl du deine Wege und was dein Herze kränkt, der allertreusten Pflege des, der den Himmel lenkt. Der Wolken, Luft und Winden gibt Wege, Lauf und Bahn, der wird auch Wege finden, da dein Fuß gehen kann!“

Mich beeindrucken diese lebenserprobten Lieder über die trotzige Zuversicht des Glaubens gegen den Augenschein, von Paul Gerhardt bis zu den Gesängen der Sklaven auf den Baumwollfeldern Amerikas, aus denen später Teile der Gospelmusik hervorgegangen sind. Eine wahrhaft himmlische Musik, meint zumindest die Band „Prefab Sprout“ in einem Song: “If there ain’t a heaven that holds you tonight, they never sang doo wop in Harlem.” – „Wenn es keinen Himmel gäbe, dann hätten sie in Harlem niemals Doo-Wop gesungen!“

Ich singe diese alten Choräle und Gospels am liebsten im Gottesdienst, mit anderen zusammen. Weil sie uns daran erinnern, dass Glauben, Hoffen und Lieben nicht mit uns begonnen hat. Andere vor uns haben ihre Erfahrungen mit dem Geheimnis Gottes gemacht. Ihre Lieder sind mir im Lauf der Jahre ans Herz gewachsen. Ich möchte sie immer wieder singen und warte darauf, dass sie mir im Wechsel der Jahreszeiten und des Kirchenjahres erneut begegnen: Von „Macht hoch die Tür, die Tor macht weit“ über „Oh Haupt voll Blut und Wunden“ bis zu „Geh aus mein Herz und suche Freud!“ und „Du meine Seele singe!“

Unsere Seele will singen. In unseren Kirchen und Gemeinden wird gesungen, zumindest einmal die Woche im Gottesdienst. Wo sonst werden Menschen heute in unserer Gesellschaft noch zum Selber-Singen eingeladen, außer beim Karneval und in den Fußballstadien? Ein Freund von mir ist studierter Konzertgeiger, der auch eigene orchestrale Werke komponiert hat. Doch vor allem hat er Freude am Musizieren. Vor Jahren schon lud er unsere Nachbarschaft ein, sich zum gemeinsamen Singen zu treffen. Bis heute kommen sie mit einigen Leuten einmal die Woche zusammen und üben Madrigale, mehrstimmige Volkslieder oder Choräle. Einfach so. Sie planen keine „Chorauftritte“ oder Konzerte, sie haben einfach Freude am Gesang.

In unseren Kirchen haben wir viele grandios ausgebildete Kirchenmusiker. Ich habe so manchen Gottesdienst erlebt, in dem ein herausragender Meister an der Orgel mit seinem mächtigen Spiel einen äußerst kläglichen Gemeindegesang virtuos übertönte. Ich habe aber auch erlebt, dass hochprofessionelle Kirchenmusiker sich nicht zu schade waren, einfach mit der Klampfe vor der Gemeinde zu stehen und mit ihnen ein Lied einzuüben. Und das finde ich gut so. Denn damit Lieder uns zu Wegbegleitern werden können, müssen wir wieder singen üben. Mehr davon, bitte!

Wie ist das eigentlich bei Ihnen? Bei welchen Liedern treten Ihnen die Tränen in die Augen? Unser Herz ist da ja gnadenlos subjektiv und nicht immer wirklich geschmackssicher. Ich habe gestandene Hochschulprofessoren weinen sehen, wenn Udo Jürgens „Griechischer Wein ist so wie das Blut der Erde“ anstimmte.

Warum überhaupt halte ich feuchte Augen offenbar für ein „Qualitätsmerkmal“ in Sachen Lieder?  Weil ich glaube: Nur was uns bewegt, setzt uns in Bewegung. Das ist jetzt mitnichten ein Plädoyer für mehr rührselige Schnulzen in unseren Gottesdiensten. Ich werde mich hier nicht näher über die aktuell inflationäre Lobpreis-Produktions-Industrie in der christlichen Musik-Szene äußern. Das wäre ein eigenes Thema. Aber eines halte ich für gewiss: Wir werden Menschen mit dem, was wir singen und sagen, nur erreichen, wenn wir neben ihrem Kopf auch Herz und Bauch bewegen. Ob einem Song das gelingt, ist nicht planbar. Ob ein Song zu einem Wegbegleiter wird, ob er Menschen tröstet oder herausfordert, erfreut oder ermutigt, diese Entscheidung trifft nicht der Liedermacher, sondern wird in den Herzen der Zuhörer getroffen. Wenn es geschieht, gehört das zu den größten Geschenken in meiner Arbeit als Songwriter. Ich finde es zwar immer ein bisschen peinlich, wenn Künstler sich zu ihren eigenen Werken selber auf die Schulter klopfen, aber eine solche Geschichte, die mich sehr gefreut hat, möchte ich Ihnen trotzdem erzählen. 1991 entstand dieses Lied, zu dem mein Freund Eberhard Rink die Musik komponiert hat und das mich bis heute in Konzerten begleitet:

Entscheidung

Wenn sich die Tür ganz leise schließt, / durch die du grad gegangen bist, / und du stehst ganz allein vor neuem Land; / du überdenkst den letzten Schritt, / du nimmst die Welt von Gestern mit, / erahnst die Spuren im verwehten Sand.

Du fragst dich, was dich hierher trieb, / bis wann die Qual der Wahl dir blieb, / ab wann es alles wie von selber lief. / Dann nimmst du hin, was nun mal ist, / betrachtest, wer du heute bist, / und schreibst dir selber einen offnen Brief:

Was wollte ich, was wurde draus? / Was tat ich und was ließ ich aus? / Wie hol ich dies und jenes falsche Wort zurück? / Was träumte ich, was tat ich dann? / Versäumte ich, was fing ich an? / Und welche Ziele hab ich noch im Blick?

Vielleicht hab ich zu spät geplant, / die Gunst der Stunde nicht erkannt, / Vielleicht war ich noch nicht dafür bereit. / Vielleicht hab ich zu lang gedacht, / dass es ein andrer für mich macht. / und war am falschen Ort zur falschen Zeit.

Was mich bewegt, hast Du erkannt. / Hältst meine Zeit in deiner Hand. / Du siehst mein Herz und trägst die Fehler mit. / Durchdringe Du, Herr, meinen Tag, / und das, was ich zu tun vermag! / Ich steh vor Dir und geh den nächsten Schritt.

Dieser Song war schon mehr als 15 Jahre auf seiner Reise, als nach einem Konzert eine Frau in den Vierzigern auf mich zukam und mir erzählte, sie habe das Lied Anfang der 90er Jahre kennengelernt. Damals hatte sie gerade ihr Medizinstudium abgebrochen, um sich ganz ihren kleinen Kindern und der Familie widmen zu können. Jahre später stand sie mit ihrer Familie vor der Frage, ob sie es wagen solle, das Medizinstudium doch noch zu Ende zu führen. Auch in dieser Phase habe sie oft dieses Lied gehört. „Nun“, sagte sie lachend, „haben sie es in diesem  Konzert noch einmal gespielt. Und es ist es gerade einige Tage her, dass ich mein Studium abgeschlossen habe.“

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